Das Prüfkammerverfahren bei Möbel

Formaldehyd übersteigt den Grenzwert Teil 3

Stand von Wissenschaft und Technik

dd) Die Angriffe des Beklagten und des Streithelfers gegen das vom Sachverständigen praktizierte Prüfkammerverfahren (Referenzverfahren) vermögen nicht zu überzeugen. Nach § 9 Abs. 3 S. 2 GefStoffVO ist "die Ausgleichskonzentration ... nach einem Prüfverfahren zu messen, das dem Stand von Wissenschaft und Technik entspricht".

 

Soweit es in Satz 3 genannter Bestimmung weiter heißt, "das Bundesgesundheitsamt veröffentlicht im Einvernehmen mit der Bundesanstalt für Materialprüfung nach Anhörung von Sachverständigen Prüfverfahren, die diesen Anforderungen entsprechen", ist aufgrund der drei Gutachten des Sachverständigen und des Ergebnisses seiner Anhörung geklärt worden, dass das BGA das - modifizierte - Prüfkammerverfahren zwar bereits im Juni 1989 im Bundesgesundheitsblatt 6/89 veröffentlicht hat, dass es für die Verbindlichkeit dieses Verfahrens im Sinne von § 9 Abs. 3 S. 2, 3 GefStoffVO aber bislang am Einvernehmen der BAM fehlt. Es ist deshalb der Messung nach § 9 Abs. 3 S. 2 GefStoffVO ein Prüfkammerverfahren zugrundezulegen, das dem "Stand von Wissenschaft und Technik" entspricht.

 

Diesen Anforderungen genügt das vom Sachverständigen praktizierte Referenzverfahren. Bei dem Begriff "Stand von Wissenschaft und Technik" handelt es sich um das realisierbare Ergebnis neuester naturwissenschaftlicher Forschung und ingenieurwissenschaftlicher Erfahrungssätze, deren Akzeptanz durch die Mehrheit der Praktiker noch aussteht (vgl. BVerfG, NJW 1979, 359, 362; Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, S. 164.). Der Sachverständige hat in seinen 1. Ergänzungsgutachten von 27.2.1990 (S. 3) überzeugend dargelegt, dass das im Bundesgesundheitsblatt 6/1989 veröffentlichte, zwischenzeitlich nur im sog. nichtamtlichen Teil ("vorläufige Materialkennwerte") überarbeitete bzw. ergänzte und von ihm angewandte Prüfkammerverfahren praktisch die Anforderungen erfülle, die das Bundesverfassungsgericht in der vorstehend zitierten Entscheidung mit dem Begriff "Stand von Wissenschaft und Technik" verbindet.

Das zugrunde gelegte Prüfkammerverfahren

Das jetzige Referenzverfahren entspreche den neuesten Erkenntnissen der Technik und den Forschungsergebnissen der Wissenschaft und sei deckungsgleich mit der einschlägigen Richtlinie der EG. Im übrigen sei es in die beabsichtigte 3. Novellierung zur Gefahrstoffverordnung 1991 aufgenommen worden. Mit Datum vom 15.1.1991 sei ein Konsens aller zuständigen Dienststellen erzielt worden und - noch Notifizierung bei der EG - in Kürze mit einer entsprechenden verbindlichen gesetzlichen Regelung zu rechnen.

 

Unter diesen Umständen hat der Senat keine Bedenken, dass das vom Sachverständigen bei seiner jetzigen Messung zugrunde gelegte Prüfkammerverfahren die Anforderungen des § 9 Abs. 3 S. 2 GefStoffvo erfüllt, also dem "Stand von Wissenschaft und Technik" entspricht. ee) Der Einwand des Beklagten, die Überschreitung des Grenzwertes des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO wäre vermieden worden, wenn der Kläger, wie das bei den Türen, die mit einen Finishlackierung versehen wurden, geschehen ist, sämtliche grundierten Spanplatten mit einen besonderen Anstrich abgedichtet hätte, vermag die Gewährleistungspflicht des Beklagten nicht zu beseitigen.

 

Der Sachverständige hat bei seiner Anhörung bestätigt, dass nach seiner Einschätzung bei einer ganzflächigen Einschließung, also einer allseitigen Abdichtung der Platten eine Raumluftmessung, einen Wert unter 0,1 ppm ergeben würde: bei vollflächig beschichteten Platten mit den Maßen 2 x1 m mit offenen Kanten dürfe der Perforatorwert der Trägerplatte allerdings nicht 12 mg pro 100 g übersteigen; auch dürfe eine solche Platte nicht verkleinert werden. Solche technischen Möglichkeiten, mit Hilfe einer Beschichtung (z.B. Finishlackierung) die Ausdünstung von Formaldehyd aus Spanplatten minimieren oder sogar ausschließen zu können, berühren nach Ansicht des Senates grundsätzlich nicht die Gewährleistung des Unternehmers, der mit solchen Spanplatten sein Werk herstellt.

 

Überlässt der Handwerker/Unternehnmer dem Bauherrn/Besteller die Beschichtung (Finishlackierung), verstoßen gleichwohl der Unternehmer und seine Vorlieferanten gegen § 9 Abs. 3 S.ı GefStoffVO. Denn diese Personen geben die - noch zu behandelnden bzw. zu lackierenden - Spanplatten weiter und verwirklichen schon damit das Tatbestandsmerkmal "in den Verkehr bringen" im Sinne von §§ 9 Abs. 3 s.ı GefStof£fVO. Ein solcher objektiver Gesetzesverstoß ist auf Seiten der Produzentin, der Streithelferin und des Beklagten festzustellen. Sie haben sämtliche Spanplatten weitergegeben bzw. beim Kläger eingebaut, obwohl jedenfalls die Seitenwände und die Einlegeböden den nach § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffvo höchstzulässigen Grenzwert überschritten haben bzw. heute noch überschreiten.

Der Formaldehydgehalt der Luft

Das gilt allerdings in Bezug auf die Streithelferin und deren Lieferantin, die Produzentin, nicht, wenn erst das Zerschneiden der Platten durch den Beklagten die unbeschichteten Stellen hervorgerufen hat. Bereits diese Gesetzesverletzung -löste die Gewährleistungspflicht des Beklagten nach § 633 Abs. 1 BGB aus, ohne dass es auf eine nachfolgende Beschichtung (Anstrich) der Schrankwände durch den Kläger bzw. den von diesem beauftragten Maler ankam. Denn der Besteller will nach der allgemeinen Verkehrsauffassung seine Wohnung nicht mit Möbelstücken ausstatten, deren Holzwerkstoffe - auch ohne Finishlackierung = den Grenzwert des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffvo übersteigen.

 

Im übrigen sind die vom Beklagten verwendeten Spanplatten nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen in dessen 2. Ergänzungsgutachten vom 26.11.1990 auch deshalb fehlerhaft sind, weil entgegen Abschnitt 4.3 Absatz 2 und 3 der ETB-Richtlinie nicht an allen Stellen eine Beschichtung einschließlich aller Perforierungen vorliegt. Zwar sind die Einlegeböden allseitig ummantelt, jedoch sind die Seitenwände durch Perforierungen unterbrochen.

 

Der Beklagte kann sich seiner Gewährleistung nicht mit dem Argument entziehen, die Finishlackierung sei bauseits, also vom Kläger vorgesehen gewesen bzw. der Kläger hätte sie veranlassen müssen, um die Ausgleichskonzentration des Formaldehyds in der Raumluft unter den Grenzwert des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO zu bringen.

 

Wie der Sachverständige bei seiner Anhörung vor dem Senat überzeugend dargelegt hat, kann bei einer allseitigen Beschichtung schon ein einziges Nagelloch dazu führen, dass der Formaldehydgehalt der Luft wieder erheblich ansteigt. Das bedeutet, Platten einschließlich aller Perforationen nicht verhindern kann, dass der Grenzwert des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO überschritten wird.

 

Denn nach der Lebenserfahrung ist es nicht auszuschließen, dass durch ein Nagelloch oder, was im Alltag durch eine Unachtsamkeit die Lackierung an einer kleinen Stelle der Schrankwand oder der Einlegeböden beschädigt wird und dadurch, für den Verbraucher meist unbewusst, solche Mengen von Formaldehyd in die Raumluft entweichen, dass der Grenzwert des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO überschritten wird. Allein dieser Umstand, nämlich dass die vollflächig beschichteten Spanplatten der Möbelstücke schon aufgrund einer kleinen Beschädigung des Lackfinishs zu überhöhten Ausgleichskonzentrationen des Formaldehyds führen können, ist nach einen Fehler der Möbelstücke im Sinne des Fehlerbegriffs des § 633 Abs. 1 Fall 2 BGB zu bejahen.

Die angebotene Nachbesserung

Denn nach der allgemeinen Verkehrsanschauung ist davon auszugehen, dass Menschen nicht in einem Raum leben oder sich darin aufhalten wollen, dessen Möbel aus Holzwerkstoffen gefertigt sind, die bei der kleinsten Beschädigung überhöhte Ausgleichskonzentrationen des Formaldehyds in der Raumluft verursachen können.

 

Solche Einrichtungsgegenstände sind als minderwertig und damit als fehlerhaft zu klassifizieren. Infolgedessen kommt es für die Gewährleistung des Beklagten nicht darauf an, ob eine vom Kläger zu veranlassende Lackierung sämtlicher Teile der Schrankwände eine unzulässige Emission vermieden hätte. Erst recht brauchte sich der Kläger unter diesen Umständen nicht auf die vom Beklagten angebotene Nachbesserung einzulassen, nachträglich sämtliche Teile der Schrankwände zu lackieren oder sonst wie abzudichten.

 

Die Mangelhaftigkeit der vom Beklagten hergestellten beiden Schrankwände ist nicht deshalb zu verneinen, weil nach der vom Sachverständigen in dessen 2. Ergänzungsgutachten ermittelten Prüfkammerwerten mit 0,14 ppm (Rückwand) und 0,08 ppm (Tür) die Rückwände und insbesondere die Türen weniger belastet sind und nach den vom Sachverständigen gezogenen Schlussfolgerungen mit hoher Wahrscheinlichkeit den 0,1 ppm- Wert unterschreiten.

 

Inwiefern diese Schlussfolgerung in Bezug auf die Rückwand zutrifft, die mit einen Wert von 0,14 ppm den Grenzwert des § 9 Abs. 3 5.ı GefStoffVO überschreitet, kann dahingestellt bleiben. Denn der gerichtliche Sachverständige : hat zur Überzeugung des Senates weiter festgestellt, dass insbesondere die in den Schrankwänden mit Lochreihen versehenen Seitenwände gemeinsam mit den Einlegeböden eindeutig als Verursacher für die deutlich überhöhte Formaldehyd-Raumluftkonzentration in Betracht kommen, die der Sachverständige zusätzlich mit Hilfe eines DESAGA-Gasprobennehmers gemessen und mit 0,30 ppm bestimmt hat.

 

Selbst wenn man zugunsten des Beklagten davon ausgeht, dass die im Schlafzimmer des Beklagten befindliche Ausgleichskonzentration des Formaldehyds nicht nur von den bislang behandelten Schrankwänden, sondern auch von weiteren, bislang nicht untersuchten Quellen verursacht wird, hat der Sachverständige nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass angesichts der besonders hohen Emissionen der Seitenteile und Einlegeböden die Anforderungen des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO nicht erfüllt werden.

 

Denn für die Entstehung eines erhöhten Raumluftimmissionsniveaus reiche es bereits aus, wenn nur einzelne Teile eines Möbels erhöhte stoffspezifische Emissionen aufweisen. Der Umstand, dass die Werte für Rückwand und Tür erheblich niedriger sind als die für Seitenwände und Einlegeböden, spricht auch nicht gegen das vom Sachverständigen praktizierte Prüfkanmmerverfahren an sich. Denn der Sachverständige hat für das Auftreten solcher Differenzen einen plausiblen Grund angegeben, nämlich die Tatsache, dass bei der Möbelfertigung häufig mit verschiedenartigen Materialien gearbeitet wird. Im übrigen ist der besonders niedrigere Wert bei der Tür auf die Tatsache zurückzuführen, dass dieses Teil im Gegensatz zu den übrigen untersuchten Teilen der Schrankwände eine Finishlackierung hat.

 

d) Der Sachverständige hat zusätzlich zum Prüfkammerverfahren und der schon erwähnten Raumluftmessung in Bezug auf die entnommenen Proben von Seitenwand, Einlegeboden, Rückwand und Tür jeweils den Perforatorwert nach DIN EN 120 und darüber hinaus den Gasanalysewert mit und ohne Schmalflächenabdichtung ermittelt. Wegen der Ergebnisse im einzelnen wird auf Seite 4 des 2. Ergänzungsgutachtens verwiesen.