Die beschichteten Spanplatten

Formaldehyd übersteigt den Grenzwert Teil 2

Zu verwendende Holzwerkstoffe

aa) Nach dem Fehlerbegriff des § 633 Abs. 1 Fall 2 BGB ist ein Sachmangel gegeben, wenn die Istbeschaffenheit des Werkes hinter deren Sollbeschaffenheit zurückbleibt und dadurch der Wert oder die Gebrauchstauglichkeit des Werkes beeinträchtigt wird. Die Gefahrstoffverordnung schreibt in § 9 Abs. 3 S. l für Holzwerkstoffe, zu denen u.a. die vom Beklagten verwendeten beschichteten Spanplatten gehören, vor, dass diese "nicht in den Verkehr gebracht werden (dürfen), wenn die durch den Holzwerkstoff verursachte Ausgleichskonzentration des Formaldehyds in der Luft eines Prüfraums 0,1 ml/cbm (ppm) überschreitet."

 

Die Parteien gehen bei ihrem Sachvortrag übereinstimmend davon aus, dass in Bezug auf die Formaldehydemission der vom Beklagten verwendeten Spanplatten der in § 9 Abs. 35.1 GefStoffVo genannte Grenzwert die Sollbeschaffenheit der Werkleistung des Beklagten im Sinne von § 633 Abs. 1 Fall 2 BGB fixiere. Das entspricht der Rechtslage. Es kann dahingestellt bleiben,ob für den hier maßgeblichen Bereich der Gewährleistung nach §§ 631 Abs. 1, 633 Abs. 1 BGB in besonders gelagerten Fällen aufgrund ausdrücklicher oder konkludenter Beschaffenheitsabrede ein gegenüber § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO niedrigerer und damit für den Besteller günstigerer Grenzwert als 0,1 ml/cbm (ppm) vorliegen muss.

 

Jedenfalls bildet der Grenzwert des § 9 Abs. 35.1 GefStoffVO für die Gewährleistung des Unternehmers beim Werkvertrag den Höchstwert, den zu verwendende Holzwerkstoffe keinesfalls überschreiten dürfen. Jenseits dieses Grenzwertes ist nach der Verkehrsanschauung ein Werk als fehlerhaft anzusehen. Das gilt insbesondere für solche Werke, die der Ausstattung von Wohnräumen dienen, in denen Menschen den Ausdünstungen des Formaldehyds unmittelbar ausgesetzt sind.

 

Den entspricht die Regelung des § 9 Abs. 4 GefStoffVO, die das Verbot des für Holzwerkstoffe geltenden § 9 Abs. 3 S.ı ausdrücklich auf Möbel MDR 1988, 963 = 927) ausdehnt. In der Rechtsprechung (OLG Frankfurt, BB 1988, 1554 = NIW-RR 1988, 1455; AG Köln, NJW-RR 1987, ist ein solcher Grenzwert als Maßstab für die Bewertung der Sollbeschaffenheit der Werk- bzw. Mietsache anerkannt.

Die Gefahrstoffverordnung

bb) Für die Entscheidung des Rechtsstreits ist es ohne Bedeutung, dass die Frage nicht aufgeklärt werden konnte, ob die vom Beklagten verwandten Spanplatten vor oder nach dem 1.10.1986 hergestellt wurden. Nach der Überleitungsregelung des § 45 Abs. 3 GefStoffVO durften Spanplatten, die vor diesen Stichtag, dem Inkrafttreten der Gefahrstoffverordnung (§ 47 Abs. 1 GefStoffVO), abweichend von § 9 Abs. 3 hergestellt worden waren, noch bis zum 30.6.1989 in den Verkehr gebracht werden.

 

Ob diese Aufbrauchsfrist für den vorliegenden Fall gilt, kann dahingestellt bleiben. Selbst wenn der Herstellungszeitpunkt der vom Beklagten verwendeten Spanplatten vor dem 1.10.1986 liegen sollte, ist für die Gewährleistung des Beklagten der Grenzwert des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO maßgeblich. Die Gefahrstoffverordnung regelt nicht unmittelbar die Anforderungen, die bei einem Werkvertrag (§§ 631 ff.) an die (Soll-)Beschaffenheit des Werkes zu stellen sind, falls dieses aus Holzwerkstoffen gefertigt wird. Wie die in der Einleitung zum ersten Abschnitt aufgelisteten Ermächtigungsgrundlagen zum Erlass der Gefahrstoffverordnung zeigen, hat diese Verordnung öffentlich - rechtlichen Charakter.

 

Sie verfolgt nach ihrem § 1 u.a. den Zweck, den Menschen vor "Gesundheitsgefahren und die Umwelt vor stoffbedingten Schädigungen zu schützen". Sie richtet sich als Maßnahme der öffentlichen Gesundheitsvorsorge für den hier fraglichen Bereich der Holzwerkstoffe ausschließlich an die Hersteller und/oder Vertreiber von Holzwerkstoffen und Möbeln, die aus solchen Stoffen hergestellt worden sind.

 

Für den privatrechtlichen Werkvertrag erlangt sie nur insofern Bedeutung, als ihr § 9 bzw. der in dieser Vorschrift geregelte Grenzwert der allgemeinen Verkehrsanschauung als Maßstab dient, auf der Grundlage des subjektiv - objektiven Fehlerbegriffs die Sollbeschaffenheit einer Werksleistung mangels ausdrücklicher oder konkludenter Beschaffenheitsabrede objektiv zu bestimmen.

Die Klassifizierung von Spanplatten

Der Senat ist der Ansicht, dass für die Frage, ob die Leistung des Beklagten zum Zeitpunkt der Abnahme Anfang 1987 ordnungsgemäß gewesen ist, die technischen Regeln und Forschungsergebnissen zu berücksichtigen sind, die zur Bestimmung der Sollbeschaffenheit einer Werkleistung zwischenzeitlich, d.h. innerhalb der Gewährleistungsfrist bzw. bis zur letzten Tatsachenverhandlung im hier vorliegenden Gewährleistungsprozess vor dem Senat, aufgestellt bzw. erzielt worden sind.

 

Der Senat schließt sich in Bezug auf die umstrittene Frage, welcher Zeitpunkt für die Festlegung technischer Regeln maßgeblich ist (vgl. dazu näher Jagenburg, Festschrift für Korbion, S. 179 ff.), der - umstrittenen - für die Planung des Architekten aufgestellten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 48, 310; BauR 1971, 58) an, nach der für die Bewertung der Ordnungsmäßigkeit der Werkleistung zum Zeitpunkt der Abnahme auch noch nachträglich erzielte neuere wissenschaftliche und/oder technische Erkenntnisse zu berücksichtigen sind.

 

Dieser Grundsatz ist auf alle Werkleistungen zu erstrecken. Denn der Unternehmer hat aufgrund seiner Erfolgshaftung auch dafür einzustehen, dass seine Werkleistung zum Zeitpunkt der Abnahme nicht mit einen Mangel behaftet ist, der sich erst aufgrund neuerer Erkenntnisse herausstellt. Infolgedessen kann der Beklagte sich nicht mit Erfolg darauf berufen, der Abnahme seiner Werkleistungen seien die Anforderungen an das Prüfverfahren zur Ermittlung des Grenzwertes modifiziert worden.

 

Nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO ist nur ein Prüfverfahren zulässig, nämlich das zur Feststellung der Ausgleichskonzentration des Formaldehyds "in der Luft eines Prüfraums", also das Prüfkammerverfahren. Als materielles Gesetz hat die Gefahrstoffverordnung andere Prüfverfahren, wie z.B. das in der ETB-Richtlinie alternativ vorgesehene Perforatorverfahren (DIN EN 120, vgl. Abschnitt 3.3 des Anhangs "Richtlinie über die Klassifizierung von Spanplatten bezüglich der Formaldehydabgabe" zur ETB-Formaldehyd-Richtlinie) und das Gasanalyseverfahren (vgl. Abschnitt 3.4 des Anhangs vorgenannter "Richtlinie über die Klassifizierung von Spanplatten bezüglich der Formaldehydabgabe") verdrängt.

Das Prüfkammerverfahren

Die ETB-Richtlinie stellt keine Rechtsvorschrift dar (vgl. Böckernförde in Gädtke/Böckenförde/Temme, Bauo NW, 8. Aufl., § 3 Rdn. 31). Sie "gilt" lediglich als eine "allgemein anerkannte Regel der Technik" (vgl. § 3 Abs. 3 BauO NW) und muss deshalb als bloße technische Regel ohne Normcharakter zwingenden Rechtsvorschriften weichen. Im übrigen kann jede eingeführte technische Baubestimmung (ETB) durch technische Entwicklungen überholt sein (Böckenförde, a.a.O. Rdn. 31). Letzterer Tatbestand ist in Bezug auf das Prüfkammerverfahren gegeben.

 

Das Prüfkammerverfahren nach der ETB-Richtlinie ist aufgrund neuerer wissenschaftlicher Forschungsergebnisse (z.B. andere Anströmgeschwindigkeit) entsprechend der inzwischen veröffentlichten EG-Richtlinie verbessert worden, wie der Sachverständige in seinem 1. Ergänzungsgutachten vom 27.2.1990 (S. 4) näher ausgeführt hat. Das Prüfkammerverfahren ist nach den weiteren Ausführungen des Sachverständigen(a.a.O.) im Kreis der Sachverständigen nicht strittig.

 

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Beschränkung der Prüfverfahren auf das Prüfkammerverfahren durch den Verordnungsgeber in § 9 Abs. 3 GefStoffVo auf wohlerwogenen Überlegungen beruht und im Interesse der Gesundheit der Bevölkerung ergangen ist, die gerade in den letzten Jahren gegen negative, vornehmlich gesundheitsschädliche Umwelteinflüsse besonders sensibilisiert worden ist. Es erscheint deshalb geboten, die Sollbeschaffenheit von Holzwerkstoffen nach dem modifizierten Prüfkammerverfahren zu bestimmen.

 

Schon vor Inkrafttreten der Gefahrstoffverordnung am 1.10.1986 war der vom Bundesgesundheitsamt (BGA) gemäß dessen Pressemitteilung Nr. 19/77 empfohlene Richtwert von 0,1 ppm (0,12 mg/cbm), der nach den Ausführungen des Sachverständigen im Ergänzungsgutachten vom 27.2.1990 (S. 5) identisch ist mit demjenigen, der in § 9 Abs. 3 GefStoffVO erwähnt wird,. Grundlage aller meßtechnischen Festlegungen, wie der Sachverständige in seinem Hauptgutachten (S. 2) eingehend dargelegt und nachgewiesen hat.

Die Messung mittels der Prüfkammermethode

Auf dieser Empfehlung beruht die ETB-Formaldehydrichtlinie aus dem Jahre 1980. Da anzunehmen ist, dass sich die Hersteller von Holzwerkstoffen schon vor Inkrafttreten der Gefahrstoffverordnung an die Empfehlungen des BGA gehalten haben, ist davon auszugehen, dass der in § 9 Abs. 3 GefStoffVO festgelegte Grenzwert schon vor dem 1.10.1986 den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprach.Infolgedessen ist auch der in § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO festgelegte Grenzwert bei der Beurteilung der Fehlerfreiheit eines vor dem 1.10.1986 hergestellten Holzwerkstoffes bzw. eines aus solchen Stoffen hergestellten Werkes zugrundezulegen.

 

 

cc) Nach dem Ergebnis der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme steht fest, dass die Seitenwände und die Einlegeböden der beiden Schrankwände den Grenzwert des § 9 Abs. 3 GefStoffVO von 0,1 ppm eindeutig übersteigen. Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen : in dessen zweiten Ergänzungsgutachten vom 26.11.1990 weisen die Seitenwände, die mit Lochreihen versehen sind, aufgrund der Probeentnahme vom 6.9.1990 und der anschließend vorgenommenen Messung mittels der Prüfkammermethode bei einen Schmalflächenanteil an der Gesamtoberfläche von 10 % einen Prüfkammerwert von 0,22 ppm und die Einlegeböden einen solchen von 0,24 ppm auf. Damit werden die Werte des § 9 Abs. 3 Ss. ı GefStoffVO erheblich überschritten. Das gilt erst recht für den Zeitpunkt der Abnahme, der ausweislich der schriftlichen "Abnahmeerklärung" des Klägers vom 13.1.1987 an diesem Tage stattgefunden hat.

 

Denn nach den Ausführungen des Sachverständigen in dessen Hauptgutachten (S. 12), die er bei seiner persönlichen Anhörung bestätigt hat, klingt die relativ hohe Anfangsemission nach Ablauf von rund 2 Wochen (so Gutachten) bzw. ca. 4 Wochen (so Anhörungsergebnis) ab; danach stabilisiert sich das Emissionsniveau. Da der Beklagte die Schrankwände erst Anfang Januar 1987 montiert hatte, muss der Grenzwert des § 9 Abs. 3 S. 1 GefStoffVO am 13.1.1987 ganz erheblich überschritten gewesen sein, wenn er. mehr als 3 1/2 Jahre später noch 0,22 bzw. 0,24 ppm betrug.